Sonntag, 27. November 2011

Mutter

Es war um diese Zeit letztes Jahr, als es angefangen hat: Erst eine Infektion, die sie sehr geschwächt zurückließ, dann Herzrhythmus-Störungen, die sie ins Krankenhaus brachten, im Anschluss immer mehr unerklärliche Stürze und schließlich, am 8. Januar, kam die finale Diagnose: Gehirntumor, inoperabel, schnell wachsend. Es war, so makaber es klingt, fast ein Glück, dass sie sich einen multiresistenten Erreger eingefangen hatte, mit dem ihr geschwächter Körper nicht mehr umgehen konnte. Und so ist sie dann auch an diesem 8. Januar gestorben. Ihr ältester Enkel, ihre jüngste Schwester und ich standen an ihrem Bett auf der Intensivstation, doch wir haben sie nicht mehr erreicht – sie war schon drei Tage davor ins Koma gefallen.

In den ersten Tagen nach ihrem Tod war ich bei aller Trauer fast erleichtert. Ich war froh, dass ihr diese Diagnose erspart geblieben war, ich war erleichtert, dass sie es überstanden hatte, dass all’ ihre Ängste vor dem Verlust der Selbständigkeit, davor, pflegebedürftig und von anderen abhängig zu werden, davor, dass sie nicht mehr für ihre Lieben würde da sein können, sondern die für sie sorgen müssten (sie hat mir mehr als einmal gesagt: „Wenn ich Pflege brauche, gibst du mich in ein Heim. Ich will nicht, dass du mich pflegst und dich daran aufreibst. Ich habe mehr davon, wenn du gut gelaunt ins Heim kommst und mir von deinem Leben erzählst als wenn du es für mich opferst.“) nicht zur Realität geworden waren. Auch den schlimmsten Schmerz, den sie immer befürchtet hatte – meinen Vater, der ja 17 Jahre älter als sie war, zu verlieren – hat der Tod ihr erspart. Ich denke auch heute noch, dass es ein gnädiger Tod war und wohl auch einer, den sie für sich bejaht hätte. Ihr Leben war, obgleich sie erst 74 war und bestimmt noch gerne einiges gesehen, gelesen und erlebt hätte, doch in sich abgeschlossen und sie hatte – auch das wurde mir in den Monaten danach klar – all’ das gehabt, was für sie wichtig gewesen war.

Doch das ändert natürlich nichts daran, dass ich sie unendlich vermisse. Wir hatten ein ungewöhnlich enges Verhältnis. Wenn sie nicht meine Mutter gewesen wäre, hätte ich sie gerne zur Freundin gehabt – und dabei fällt mir jetzt natürlich ein, dass sie es immer ziemlich doof fand, wenn irgendeine Frau ihr sagte: „Meine Tochter und ich sind beste Freundinnen!“ Sie befand dann immer, dass sie gar nicht meine „beste Freundin“ sein wolle. „Freundinnen kannst du mehrere haben. Mutter nur eine!“ Sie mochte die „Exklusivität“ unserer Beziehung – und ich auch.

Ihr Leben war nicht einfach. Sie war die Älteste von acht Kindern, 1937 geboren. Ihre Kindheit war vom Krieg geprägt, den sie sehr mitbekommen hat, obwohl meine Großmutter mit ihrer Kinderschar 1942 aus dem vom Bombenkrieg bedrohten Stuttgart in ein Dorf auf der Schwäbischen Alb evakuiert wurde. Großmutter und die Kinder bekamen zwei Räume in einem Bauernhaus zugewiesen. Dabei hatten sie Glück: Sie erwischten eine sehr freundliche, warmherzige Bäuerin, die sich mit meiner Großmutter – selbst Bauerntochter und daher willig, auf dem Hof, dessen Bauer als Soldat im Krieg war, mit anzupacken. Doch dann wurde Großmutter krank und war für Monate im Krankenhaus. Die Bäuerin kümmerte sich mit um meine Mutter und ihre Geschwister, doch hatte sie mit ihrem Hof und den eigenen vier Kindern genug zu tun, so blieb doch vieles an meiner Mutter hängen.

Und dann rückte der Krieg näher. Mutter erzählte oft von ihrem Schulweg in den neun Kilometer entfernten, größeren Nachbarort. Im Sommer sei’s schön gewesen, über die Alb zu wandern. Sie habe unterwegs mit ihren kleineren Geschwistern Kräuter, Beeren und Pilze gesammelt. Doch im Winter – und der Winter auf der Alb kommt früh und ist hart – fand der Schulweg morgens im Dunkeln statt – zwei Stunden lang. Und nachmittags wieder zurück. Damit nicht genug: Im Winter 1944 wurde eine 20 km entfernte Stadt zerbombt. Mutter erzählt, dass der Himmel tagelang blutrot gewesen sei und der Wind den Gestank nach Feuer und Zerstörung mitgebracht habe. Immer noch nicht genug: Je mehr es auf das Kriegsende zuging, desto öfter wurden die Kinder auf dem Schulweg von Tieffliegern angegriffen. „Manchmal sind wir zwei, drei Stunden zitternd und verängstigt in einem Graben gelegen, weil wir uns nicht auf das freie Feld hinaus getraut haben.“

Doch die Familie meiner Mutter hatte Glück: Nachdem sie in den letzten Kriegswochen nichts von meinem Großvater gehört hatten, der als begeisterter Segelflieger und kreativer Schreiner im Flugzeugbau tätig gewesen war, kam er im Frühling 1945 nach Stuttgart zurück, fand das Haus, in dem die (gemietete) Familienwohnung lag, unversehrt, aber die Wohnung von ausgebombten Nachbarn besetzt. Dennoch hat er seine Familie kurz darauf nach Stuttgart zurück geholt, wo sie dann einige Monate mit der Nachbarsfamilie die Vier-Zimmer-Wohnung teilte. Wie man dort lebte – ich mag’s mir nicht vorstellen: Meine Großeltern mit ihren damals sieben Kindern, die Nachbarn mit ihrer geistig behinderten Tochter – 12 Personen in vier Zimmern mit einer winzigen Küche, ohne Badezimmer.

Als meine Großmutter dann wieder schwanger war, schafften sie es, die Nachbarn aus der Wohnung zu bekommen. Doch die letzte, achte Geburt schwächte meine Großmutter so sehr, dass sie wieder monatelang im Krankenhaus war. Meine damals achtjährige Mutter wurde von der Schule freigestellt, um zuhause ihre Geschwister zu versorgen. Und sie blieb auch noch ein halbes Jahr befreit, als meine Großmutter wieder nach hause kam – sie brauchte immer noch Hilfe. Auch in den nächsten drei Jahren ist meine Mutter immer wieder wochenlang nicht in die Schule gegangen, weil sie zuhause gebraucht wurde – und dabei liebte sie die Schule und träumte davon, selbst Lehrerin zu werden. Für sie gab es nichts schöneres als Lesen und Lernen.

Es half ihr nicht viel. So sehr mein Großvater seine kluge, fleißige Älteste liebte, so war er doch ein sehr konservativer Mann. Er war sicher, dass seine sechs schönen Töchter ja doch heiraten würden, wozu also Geld in ihre Ausbildung investieren? Das sollte seinen beiden Söhnen vorbehalten sein.

Als meine Mutter 14jährig mit der Schule fertig war, musste sie in einer Strumpffabrik anfangen. Ein Jahr arbeitete sie dort als Hilfsarbeiterin, dann ergab es sich, dass in der Firma, in der mein Großvater mittlerweile Werkmeister war, im Büro eine Hilfe gesucht wurde. Meine Mutter bekam den Job, lernte Maschinenschreiben und stieg zur Tippse auf. Sie war 17 – sehr schüchtern und im Gegensatz zu ihren Schwestern ein wenig moppelig, weswegen diese Schwestern alle fest davon überzeugt waren, dass sie eh nie heiraten, sondern die „gute Tante“ für ihre Kinder werden würde. Doch Mutter hatte eigentlich schon mit 14 gewusst, was für einen Mann sie wollte: Meinen Vater. Er war ein Nachbar, eigentlich gelernter Kaufmann, aber er hatte nach dem Krieg die Schuhmacherwerkstatt seines Vaters übernommen. Die jüngeren Geschwister meiner Mutter verdienten sich bei ihm gerne ein paar Groschen, in dem sie die reparierten Schuhe austrugen (ja, damals gehörte es zum Service, dass einem reparierte Schuhe nach Hause gebracht wurden). Meine Mutter unterdessen, die jedes Buch in der durchaus umfangreichen Bibliothek ihrer Eltern schon mindestens dreimal gelesen hatte, lieh sich Bücher von ihm aus und genoss es, dass er mit ihr dann darüber sprach. Dabei sprach dann seine damalige Frau – nicht sehr an Büchern interessiert und oft darüber verärgert, dass mein Vater lieber las als mit ihr ausging – einmal ein prophetisches Wort als Witz aus: „Die Kleine wäre die richtige Frau für dich.“ Und auch meine Mutter verkündete 14jährig einmal: „Ich möchte einen Mann wie den Herrn Moppelmaxpapa.“

Sie hat ihn bekommen. Als sie 17 war, zerbrach seine erste Ehe. Ein Jahr später drängelte seine Mutter darauf, dass er wieder heiraten solle – sie wolle endlich Enkel. Und überhaupt sei’s besser für ihn und ob ihm eigentlich noch nie aufgefallen sei, dass die Nachbarstochter wundervoll zu ihm passen würde? Ihm war’s aufgefallen, er hatte nur den Altersunterschied von 17 Jahren gescheut. Doch nun begann er, die Fühler auszustrecken, stellte fest, dass meine Großeltern mit diesem Altersunterschied kein Problem haben würden und dass meine Mutter durchaus an ihm interessiert war. Am 14.Februar 1956 – zwei Wochen vor ihrem 19.Geburtstag – verlobten sich meine Eltern. Am 29.Dezember 1956 haben sie dann geheiratet, im August 1957 wurde mein Bruder geboren, im November 1960 folgte ich.

Meine Eltern hatten damals nicht viel Geld – Vaters Miniladen lief nicht sehr gut und 1966 hat er ihn dann auch aufgegeben und zum Glück eine gute Stelle in einem evangelischen Verlag gefunden – aber ich glaube, meine Mutter war glücklich. Sie war ja daran gewöhnt, mit wenig Geld auszukommen und hart arbeiten zu müssen (sie hat in dieser Zeit in der Abendschicht einer Fabrik in der Nähe gearbeitet, um etwas dazu zu verdienen. Wenn mein Vater aus seinem Laden kam, übernahm er die Kinder und sie ging in die Fabrik). Doch sie hatte einen geliebten Mann und ihre Kinder – und am Wochenende zogen wir mit Sack und Pack in Opas Garten, wo wir Kinder dann die Pflanzen ausgruben, die Großvater gerade eingesetzt hatte, uns mit Beeren direkt vom Strauch vollstopften (ich weiß bis heute, wie Opas Erdbeeren geschmeckt haben und ich habe nie wieder so gute gegessen), in seinem Wassertank rumpritschelten und selig waren, wenn eine der Tanten oder der Onkel mit uns am Hand zum Bäcker gingen und dort ihr Taschengeld für Mohrenköpfle (Negerkuss) und Eiskonfekt ausgaben.

1965 haben meine Großeltern in einem ungefähr 20 km von uns entfernten Ort gebaut – und von da an haben mein Bruder und ich regelmäßig darum gestritten, wer am Wochenende zu ihnen durfte. Das schönste daran war dann übrigens, wenn mein Opa erst mit seinem Ford Taunus und dann mit dem grünen VW K70 Freitagabends kam, um uns abzuholen. Opa ganz für sich zu haben – das war für mich das Größte. Er war aber auch der ideale Opa für kleine Kinder: An Regentagen nahm er mich mit in seine Werkstatt, in der er alte Möbel restaurierte, Schränkchen und Wiegen für die immer größer werdende Enkelschar baute oder in der Weihnachtszeit aus Furnierresten wunderschöne Sterne bastelte. Ich bekam dann ein Stück Holz, das in die Werkbank eingespannt wurde und eine Feile. Damit habe ich dann immer Boote gebaut, denen Opa dann einen Mast einsetzte und die er lackierte und fertig machte. Und wenn das Wetter schön war, ging er mit mir spazieren – er war auch Bauernsohn und erklärte mir unterwegs alles über die Felder und was wo wächst. Oder wir buddelten in seinem Garten, den er heiß liebte.

Meine Oma unterdessen, der ich anscheinend mal gesagt habe, dass sie gar keine „richtige Oma,“ weil viel zu jung (sie war 43, als ich geboren wurde) sei, hat mir das Radfahren beigebracht: Auf dem Fahrrad meiner jüngsten Tante, dass sie am Gepäckträger fest hielt. So radelte ich die Straße vor ihrem Haus rauf und runter und sie rannte hinterher.

Meine frühe Kindheit war schön. Geborgen in der Großfamilie, Opas Liebling (weil ich, im Gegensatz zu meinem Bruder, handwerklich begabt war), mit einer Mutter, an der mich damals nur eines störte: Sie war so stolz auf ihr blondgelocktes, blauäugiges Mädchen (sie selbst war übrigens dunkelhaarig und hatte wunderschöne, dunkle Augen), dass sie dieses Mädchen auch gerne als ein solches sah. Ergo musste ich lange Haare tragen – was ich ganz schrecklich fand – und wurde Sonntags immer in ein weißes Kleidchen mit pastellfarbener Schleife um den Bauch gesteckt. Dazu gab’s weiße Strumpfhosen und Lackschuhchen. Ich hasste das Kleid! Und das allerschlimmste dran war: Mutter hatte es selbst gehäkelt – und immer, wenn ich hoffte, aus diesem gräßlichen Ding endlich rausgewachsen zu sein, tauchte noch ein Knäuel von der Wolle auf und sie häkelte eine Reihe unten dran und eine an der Seite und schon passte das Teil wieder. Meist gab’s dann noch eine neue Schleife – ich erinnere mich, dass ich da rosa und himmelblau und lindgrün durchgemacht habe und dass es dazu immer das passende Band für meinen Pferdeschwanz gab – und was habe ich es gräßlich gefunden, wenn Mutter mir damit so eine richtig aufwändige Schleife auf den Kopf gezaubert hat! Ich glaube, ich habe mir da ein frühkindliches Trauma geholt, das sich später dergestalt auswirkte, dass ich lieber ins Nonnenkloster gegangen wäre (dabei bin ich Protestantin) als in weiß zu heiraten.

Als ich älter wurde, war’s dann nicht mehr so idyllisch. Meine Mutter hatte Schule geliebt – und verstand überhaupt nicht, dass sowohl mein Bruder wie auch ich Schule hassten. Und schlimmer noch: Sie verstand nicht, warum gerade ihre unzweifelhaft intelligente Tochter im Gymnasium von Anfang an Probleme hatte. In Mathematik war ich von Anfang an eher unterbelichtet und verstand nur Bahnhof und Abfahrt – wobei Mutter das vielleicht noch akzeptiert und verstanden hätte. Was für sie aber völlig unverständlich war: Ich hatte Schwierigkeiten mit Fremdsprachen. Ich habe – weil ich damals ja Zoologin werden wollte – mit Latein angefangen und hing schon im ersten Jahr. Im zweiten blieb ich dann wegen Latein und Mathe das erste Mal sitzen, im dritten kam Englisch dazu und ich schaffte nur mit Müh’ und Not die Versetzung, in der achten Klasse hatte ich sowohl in Mathe wie auch in Latein und Englisch eine Sechs – und damit war meine Gymnasialkarriere erledigt.

Was ebenfalls erledigt war, waren mein Selbstbewusstsein und mein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Meine Eltern – darin von meinen Lehrern bestärkt – konnten sich mein Schulversagen nur durch „Faulheit“ erklären und so bekam ich Druck, Druck und noch mal Druck. Dabei war ich nicht faul. Ich habe es anfangs wirklich probiert und gepaukt wie nichts – aber ich konnte mir Vokabeln einfach nicht merken. Und irgendwann, nachdem ich immer nur schlechte Noten geschrieben habe, habe ich resigniert und mich stattdessen – wozu hat man eine große Klappe? – als Klassenkasper betätigt. Ich ließ mir nicht anmerken, wie sehr ich selbst unter meinem „Versagen“ litt, wie sehr ich an mir zweifelte und wie unglücklich ich war.

Mutter war’s bestimmt auch. Sie hatte davon geträumt, dass ich studieren würde – und ich weiß: Egal, welches Fach ich gewählt hätte, sie hätte sich dafür interessiert und mit mir gelernt. Sie hat ihr Leben lang so gerne gelernt, sie wollte immer mehr wissen und sie hat sich, obwohl sie in der Schule nicht viel mitgekriegt hat, im Lauf ihres Lebens ungeheuer viel Wissen über Geschichte, Kunst, Architektur und Botanik angelesen. Dazu hatte sie in den späten 60ern einen Halbtagsjob im Büro gefunden – und daraus einiges gemacht. Sie hatte als Tippse angefangen, aber im Lauf der Jahre war sie – obwohl sie ursprünglich keine Fremdsprache sprach – zur Auslandssachbearbeiterin aufgestiegen und hat sich virtuos durch japanische Frachtbriefe, spanische Zollpapiere und weiß-was-noch geschlagen.

Mein Schulversagen und meine beruflichen Irr- und Umwege haben unser Verhältnis lang belastet. Es hat Zeit gebraucht, bis sie begriffen hat, dass ich nicht „faul“ war – aber ich glaube, in den letzten 20 Jahren war sie ganz zufrieden und schließlich sogar stolz auf mich. Vor allem hat sie begriffen, dass mein Schulversagen eben nicht (nur) meine Schuld war, sondern unter anderem dadurch verursacht wurde, dass ich mit der Art, wie in der Schule Sprachen gelehrt werden, nicht klar komme. Ich habe erst dann Englisch gelernt, als ich mich von Vokabeln pauken und Grammatik büffeln frei gemacht habe (oder, um es ganz deutlich zu sagen: Als ich die Hoffnung aufgegeben hatte, das je zusammen zu kriegen). Als ich beschloss, dass ich auch mit meinem miesen Pidgin-Englisch irgendwie durchkomme, ging’s plötzlich – da habe ich dann nämlich angefangen, im Zusammenhang zu lernen und ein Gefühl für die Sprache zu entwickeln. Das Ergebnis ist ziemlich gut – abgesehen davon, dass ich einen grauslichen Akzent habe, ist selbst der Prof manchmal erstaunt, wie sehr ich mit seiner Sprache spielen kann.

Mutter hat das noch mitbekommen – und mir mal gesagt, dass sie es anfangs ziemlich schlimm gefunden habe, weil ihr da so klar geworden sei, wie unrecht sie mir getan habe und wie sehr ich in der Schule ihre Unterstützung gebraucht hätte. Aber später hat es sie einfach gefreut (obwohl sie oft sagte, dass sie gerne meine ehemalige Klassenlehrerin, die ihr klargemacht hat, dass ich fürs Abi nicht clever genug bin, in die Finger gekriegt hätte).

Und wenn ich an die letzten Jahre mit ihr denke: Wir hatten viel Spaß miteinander. Sie war nie eine „Tütelmami“ – ganz im Gegenteil. Wo andere „ei-ei“ gemacht haben, war ihr Standardsatz „Stell dich nicht so an!“ Für Jammern hatte sie nichts übrig und manchmal, wenn ich sauer auf sie war, habe ich ihr vorgeworfen, dass sie nach dem Prinzip „Gnadenlos gegen sich selbst und erbarmungslos gegenüber anderen“ verfahre.


Auf der anderen Seite: Als sie mich einmal nachts um halb drei hörte, wie ich mich – ich hatte mir ein Magengeschwür angezüchtet – übergab, hat sie sich angezogen, mir in die Klamotten geholfen und ist mit mir in die Nachtambulanz gefahren. Drei Tage später hat sie mich nach einer Magenspiegelung beim Internisten eingesammelt. Ich saß – noch ziemlich dulli vom Beruhigungsmittel – auf einem Schragen, in der einen Hand eine Banane, in der anderen einen Becher Kaffee. Mutter kam rein, sah mich, begann zu lachen und zitierte den Aufschrei einer Tante, getätigt, als ihr Sohn vom eigenen Auto in der Garageneinfahrt fast überrollt wurde: „Mei’ einzig’s Kind – a DEPP!“ Die Arzthelferin, die das hörte, guckte geschockt – ich habe mitgelacht. Es war so typisch für meine Mutter.


Sentimentalität war nicht ihrs, Humor um so mehr. Und so stand sie dann auch nach meinem Reitunfall neben meinem Bett auf der Intensivstation, beguckte meinen rasierten Kopf mit dem dicken Verband und meinte schließlich: „Kleine Schläge auf den Hinterkopf erhöhen ja angeblich das Denkvermögen. Demnach, wie du auf den Kopf gefallen bist, müsstest du jetzt ja genial sein.“ Es war ihre Art, die Sorge in der Erleichterung darüber, dass ich es ohne bleibende Schäden überstanden hatte, wegzublödeln.


Auch eigene Malaisen kommentierte sie meist trocken und ironisch. Nicht einmal in den letzten Wochen, in denen es ihr wirklich dreckig ging, hat sie je gejammert. Als sie nur sechs Stunden nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wieder in der Notaufnahme landete und klar war, dass man sie dort behalten würde, sagte sie: „Okay, ich geb’s zu: Morgen gibt’s vegetarische Lasagne und die machen sie hier wirklich gut.“


Sie ist so gerne gereist – und weil mein Vater nicht so sehr reisen wollte, ist sie die letzten Jahre durch mich gereist. Wenn ich es irgendwo schön fand, habe ich fotografiert und dann saßen wir in ihrer Küche – ich immer auf der Eckbank, sie auf dem Stuhl gegenüber – und haben nächtelang geredet, erzählt, gelacht, Bilder angeguckt. Damals dachte ich immer: „Wenn der Vater mal nicht mehr da ist, zeig’ ich dir das alles! Dann kommst du mit mir nach England und ich zeige dir die englischen Gärten. Und Oxford – wir werden Tage in Oxford bringen und du wirst es so genießen, wenn dir dein Schwiegersohn die Geschichte sämtlicher Colleges erzählt und wir werden in der wunderschönen Kapelle des Magdalen Barockmusik hören …“ Und ich hätte ihr so gerne den dicken Schimmel noch mal vorgeritten. Sie liebte Tiere und hat an meiner Reiterei immer teilgenommen. Sie kannte jedes meiner Pferde, hat immer altes Brot für sie gesammelt und in den Jahren, in denen ich auf der Alb auf dem Gestüt lebte, kam sie oft am Wochenende und saß mit mir an der Stutenkoppel, auf der im Frühling die Fohlen spielten.


Und obwohl sie selbst nie geritten ist (aber oft gesagt hat, dass sie das bedauere), hat sie jedes meiner Bücher gelesen – die meisten sogar vor Erscheinen als Manuskript. Sie war gut darin, Rechtschreibfehler zu finden; sie hat seltsame Formulierungen entdeckt und angestrichen und sie hat sogar Logikfehler bemerkt. Und während des Schreibens war sie oft mein Lexikon. Wenn’s um Geschichte oder Kunst ging, habe ich nicht irgendwo nachgeguckt, sondern erstmal sie gefragt – meist wusste sie die Antwort oder zumindest, wo was darüber steht und ich nachlesen kann.


Lesen – auch da fehlt mir heute was. Ich bin früher kaum einmal zu ihr gekommen, ohne dass sie mir Ausschnitte aus der Zeitung gegeben hat. Sie las die Zeitung von vorne nach hinten und wenn darin irgendwas war, von dem sie dachte, dass es mich interessiert, hat sie es ausgeschnitten.


Sie fehlt aber nicht nur mir, sondern auch dem Professor und allen meinen Freunden. Die waren’s nämlich gewöhnt, dass sie von meiner Mutter bekocht wurden, wenn sie zu Besuch bei mir in Stuttgart waren. Mutter war immer an Menschen interessiert und konnte mit jedem reden. Mir ist es mehr als einmal passiert, dass Besucher bei ihr kleben geblieben sind und wir schließlich zu dritt in ihrer Küche saßen und über Gott und die Welt redeten. Und was ihren Schwiegersohn angeht, so habe ich sogar manchmal geblödelt, dass ich bald eifersüchtig würde – die Beiden liebten sich und konnten Stunden miteinander plaudern und kochen. Sie hat ihm beigebracht, wie man schwäbische Spätzle vom Brett schabt; er hat ihr beigebracht, wie man Yorkshire-Pudding und Roastbeef macht; sie haben gemeinsam für Weihnachten gebacken und er hat dabei gelernt, dass das, was er da mit produzierte, keine “Kekse“, sondern „Gutsle“ sind. Und während ich Ausstecherle fabriziert habe, haben sie die hohe Kunst geübt: Zimtsterne, in denen kein Gramm Mehl waren – nur gemahlene Mandeln und Eiweiß; wunderbar butterig-knusprige Spritzgebackene; Bärentatzen in der alten Form von meiner Urgroßmutter und natürlich das von Beiden so geliebte Früchtebrot, wobei sie auch da vom Ehrgeiz beseelt waren, so wenig Mehl wie möglich zu verwenden – und Himmel, hat das, was sie da aus Trockenfrüchten zusammen gerührt haben, gut geschmeckt!


Ich vermisse sie unendlich. Aber in einem kann ich die Trauer um sie schon überwinden: Ich weiß heute, dass es zwar schlimm ist, sie verloren zu haben, dass ich aber glücklich und gesegnet war, weil ich sie 50 Jahre lang gehabt habe und ihr nahe sein konnte. Sie war ein ganz besonderer Mensch und wenn mir heute jemand sagt, dass ich ihr ähnlich bin, dann bin ich stolz darauf.

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